„Tidak boleh“ [Nicht erlaubt]. Häufig hörte ich im Vorfeld meiner Reise diese zwei Wörter. Ich solle mich bedeckt kleiden. Freizügigkeit sei nicht gestattet. Ich solle keinen Alkohol trinken. Drogen seien verboten. Anfang Dezember war ich für zwei Wochen in der Provinz Aceh unterwegs. Dort herrscht seit 1999 die Scharia. Ein Alleinstellungsmerkmal in Indonesien. Die Region macht immer wieder Schlagzeilen mit massiven Restriktionen im Namen des Glaubens. Immer wieder erscheinen Berichte von brutalen Strafpraktiken. „Veranda von Mekka“ wird Aceh auch genannt.
All dessen war ich mir bewusst, als ich mich für dieses Reiseziel entschied. Schon bei der Buchung eines Hostels stellte ich fest, dass es unüblicherweise nach zwei Geschlechtern getrennte Schlafsäle gab. Wollte man als Mann und Frau ein Doppelzimmer buchen, musste man die Heiratsurkunde vorzeigen. Zumindest mit indonesischen Pässen. Als Menschen, die im Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung leben und diese als Wert erkennen, müssen wir uns über die Auswirkungen von Reisen in autoritäre Staaten sehr bewusst sein. Mit meinen Ausgaben unterstütze ich die dortige Wirtschaft und sie kommen letztlich der politischen Führung zugute. Teile der Zivilbevölkerung seien auf Tourismus angewiesen, ist häufig das Gegenargument. Dieses ist in seiner Evidenz zumindest diskutabel. Mittelfristig wird durch Tourismus die politökonomische Stabilität eines Staates gefördert. Wohin würde ein Einbruch der Branche durch ausbleibende Einnahmen führen? Erhöhte Autarkie? Politischer Umbruch in Folge sozialer Unruhen? Fragen, die nicht zu pauschalisieren sind. In Aceh gibt es jedoch kaum Tourismus. Die Region ist aufgrund der politischen Situation und beschwerlichen Anreise wenig attraktiv für Menschen außerhalb Sumatras. Einzig die Insel Pulau Weh im Nordwesten der Provinz zieht jährlich einige Taucher:innen an. Insofern musste ich mir die obigen Fragen vor Anreise nicht stellen. Demnach hätte ich die Region nicht bereisen dürfen. Wenn Ziel einer Reise eine erholsame Zeit am Strand, die Flucht aus dem Alltag oder die Lust auf Abenteuer ist, würde ich immer dafür plädieren, abzuwägen, welches Regime ich monetär unterstützen will. Dann wäre ich in keinem Fall nach Aceh gereist. Dennoch wählte ich diese Region aus. Ich hatte ein anderes Reisemotiv. Ein politisches Interesse. Ich wollte Menschen vor Ort kennenlernen. Die Zivilbevölkerung hinter der islamischen Führung. Ich wollte, die Stimmung auf den Straßen spüren. Auch gegenüber einer weißen Touristin ohne Hijab. Mich interessierte, wie der Tsunami, der 2004 die Region erfasste, die Bevölkerung geprägt hat und inwieweit das Gedenken den Alltag beeinflusst. Ich wollte mit den Menschen sprechen, zuhören, nachfragen. Auch wenn das Vorsicht gebot.
So kam ich in Banda Aceh im Flughafen an. Schon die Fassade des Gebäudes erinnerte äußerlich an eine Moschee. Ich wartete auf mein Gepäck. Es war deutlich heißer als in Medan. Da sprach mich eine Frau von der Seite an. Freundlich. Auf Englisch. Wo ich herkomme, fragte sie. Deutschland. Wo ich hinwolle? Ich nannte eine fiktive Reiseroute. Sie fragte weiter und ein Gespräch entstand. Irgendwann stieß ihr Mann dazu. Sie boten mir an, mich in ihrem Auto mit in die Stadt zu nehmen. Ich hatte ein gutes Bauchgefühl und willigte ein. Ihr Bruder fuhr vor. Er fragte, ob wir alle noch gemeinsam essen wollten. Und so kam es, dass mein erster Tag mit einem großen Teller Mie Aceh und einer Schüssel Rujak im Beisein einer herzlichen Familie endete. Noch einen Tag war ich mit ihnen unterwegs. Sie zeigten mir die Umgebung, wir trunken guten Gayo-Kaffee und hatten spannende Gespräche. Wie ich es in Sumatra Utara auch ständig erlebe, wurde jedes Essen, jedes Getränk und Eintrittsgeld für mich bezahlt. Widerstand hat keine Chance. Immer wieder betonten sie, dass sie sich in Banda Aceh so über Tourist:innen freuten.
Am nächsten Tag hatte ich den Besuch einer bekannten Moschee im Stadtzentrum geplant. Das Gebäude selber dürfen nur Menschen islamischen Glaubens betreten. Doch schon der Vorplatz sah durch den Zaun beeindruckend aus. Als ich eintreten wollte, wies mich ein Wächter darauf hin, dass dies nur mit Hijab und traditionellen Rock erlaubt sei. Das war mir nicht bewusst gewesen und ich wendete mich schon zum Gehen. Da sprach mich eine junge Frau an. Sie fragte, warum ich Indonesisch sprechen könne. Wir unterhielten uns kurz und anschließend lieh sie mir beide Kleidungsstücke. Als ich so erneut zum Tor kam, waren die Männer begeistert. Wie schön ich aussehe, sagten sie. Das verwirrte mich kurz. Seit meiner Ankunft in Indonesien wird mir immer wieder vor Augen geführt, wie willkürlich Schönheitsvorstellungen und wie kulturell geprägt eigene Unsicherheiten sind. Sei es eine markante Nase oder eben ein Hijab.
Später am Tag machte ich mich auf den Weg zu Orten der Erinnerung. Aceh ist geprägt von einer langen Geschichte aus Kriegen, Unterdrückung und dem Kampf um Autonomie. Zurückzuführen auf europäische Kolonialbestrebungen und später die Eingliederung in den Staat Indonesien. Hinzu kam ein verheerender Tsunami, der 2004 in Folge eines Seebebens die Region erfasste. Er kostete Aceh 170.000 Menschenleben. Später führte diese Katastrophe zur Beilegung des jahrelangen Bürgerkrieges und dem Sonderautonomiestatus der Provinz. Von Acehs Geschichte erzählen viele Orte in der Stadt. Das Tsunami-Museum, das eindrucksvoll Geschichten der Zerstörung und des Wiederaufbaus schildert. Ein Stromversorgungsschiff, das von den Wassermassen 4 km in die Stadt gespült wurde. Ein Fischerboot auf einem Hausdach. Ein niederländischer Kolonialfriedhof. Immer wieder kam ich mit Menschen ins Gespräch. Eine ältere Frau erzählte, täglich danke sie Gott, dass ihre Familie von dem Tsunami verschont geblieben sei. Nur 7 Cousinen habe sie verloren. Das schien die Norm zu sein. Ich bewunderte, die Offenheit mit der die Menschen von ihren Geschichten erzählten. Sichtbar bewegt und dennoch gefasst. Sie schienen, sich über Interesse zu freuen.
Wieder alleine unterwegs fiel mir besonders die Infrastruktur der Stadt auf. Der Zustand war deutlich besser als in Nordsumatra. Die Straßen waren gut ausgebaut. Es gab kaum Schlaglöcher. Immer wieder fand ich Fußgänger:innenwege. Zwischen Sehenswürdigkeiten, dem Flughafen und den Fähren verkehren Busse, die kostenlos genutzt werden können. Sogar an Ampeln kam ich vorbei. All das erklärte ich mir mit dem Wiederaufbau nach der Tsunamikatastrophe. Die Solidarität und monetäre Unterstützung der Weltgemeinschaft waren groß. Dagegen konnte ich nur vermuten, warum die Menschen besser gekleidet waren, warum das Essen und Kulturangebot mich an Europa erinnerten. Bisher ohne befriedigende Antwort.
Weiter ging es für mich nach Pulau Weh. Die Insel wird auf Sumatra nur „Sabang“ genannt. Der Name der Inselhauptstadt. Gleich auf der Fähre lernte ich eine Freundesgruppe aus Banda Aceh kennen. Mit ihnen verbrachte ich die ersten Tage. Auch hier ohne einen einzigen Rupiah zu Gemeinschaftsaktivitäten oder Essen beitragen, zu dürfen. Mitten im Dschungel, unter einem Wasserfall traf ich eine Engländerin und Französin. Beide hatten Indonesier geheiratet und lebten seit vielen Jahren auf der Insel. Mehrere Male verabredete ich mich mit ihnen und ihren Familien zum Kaffee. Später begann ich eine Tauchausbildung. Ich hatte viel Spaß im Meer und verbrachte die Abende mit den Männern der Tauchschule. Bald reisten Freunde meiner Tauchpartnerin an und wir erkundeten die Bars und Strände Sabangs gemeinsam. Und so ging es weiter. Ich lernte so viele tolle Menschen kennen. Zwar war ich zuvor weder auf Sumatra oder in Indonesien noch außerhalb Europas als Touristin unterwegs – mir fehlen hier also Referenzen -, doch ich war begeistert von der Offenheit und dem herzlichen Umgang der Menschen. Hatte ich die Orientierung verloren oder wollte eine Essensempfehlung, wusste ich, dass mir mit einem Lächeln im Gesicht weitergeholfen wurde. Ich fühlte mich sehr wohl.
Leider gibt es noch andere Perspektiven. Erzählte ich in Kabanjahe von diesen Erfahrungen bekam ich ausnahmslos die Antwort: „Ja, herzlich sind sie gegenüber Ausländer:innen. Gegenüber uns sieht das ganz anders aus.“ Das habe ich schon vor Ort gemerkt. Wie auf der Insel üblich, gehörte auch zu meiner Unterkunft ein Privatstrand. Ich fragte an der Rezeption, ob ich dort einen Bikini tragen dürfe. Die ältere Frau hinter dem Tresen bejahte. Dann schaute sie die Freundin an, die mich begleitete. Sie trug einen Hijab. Für Menschen aus der Region sei das natürlich verboten, sagte sie mit strengem Blick. Alkohol wird nur an Tourist:innen verkauft. Es gibt in Restaurants eine separate Karte, die gar nicht erst an Menschen aus der Region ausgeteilt wird. Die Entscheidung, wer zwei Karten erhält, erfolgt wohl stereotypisiert. Aceh will attraktiver für westliche Tourist:innen werden. Dadurch entsteht auf Sabang eine Zweiklassengesellschaft. Eine Freundin aus Siantar erzählte mir, sie habe das Gleiche auf Bali erlebt. „Ich fühle mich diskriminiert und das in meinem eigenen Land“ Diese Aussage finde ich sehr bezeichnend. Rassistische Strukturen sind allgegenwärtig. Hier sind sie mir alltäglich bewusst. Mit dem Weißsein geht in Indonesien eine Glorifizierung einher. Der Umgang damit ist für mich nicht einfach. Es zwingt mich stetig zu reflektieren. Im Alltag und auf Reisen.
Auch überraschten mich die vielen palästinensischen Flaggen nicht wirklich. Sie hingen überall. An Häusern, Booten, in Restaurants und Geschäften. Im Nahost-Konflikt positioniert sich Indonesien in öffentlichen Solidaritätsbekundungen klar auf Seiten der Palästinänser:innen. Doch eine entsprechende Flagge hatte ich in Nordsumatra noch nie entdeckt. Eine Freundin aus Banda Aceh erzählte mir, sie würden täglich für Palästina beten. Die Menschen im Gazastreifen hätten keinerlei Macht. Nur der Glaube könne sie retten.
Exemplarisch für den Regionalpatriotismus, den ich erlebte, steht für mich ein Gespräch in einem Warung. Ein junger Mann wartete neben mir auf sein Essen. Wie auf Sumatra üblich, kann das schonmal eine Stunde dauert. Wir unterhielten uns. Irgendwann ging es um Politik. Er betonte, dass Aceh schon lange um Souveränität kämpfe. Wer sich in die Geschichte der Provinz einließt, kann das bestätigen. Dass Indonesien diese Unabhängigkeit nicht gewähre, erkläre er sich mit dem Rohstoffvorkommen in der Region. „Aber Aceh ist Ausland!“, ein Lächeln huschte bei diesen Worten über sein Gesicht. Ich frage nach, es würde doch einen Friedensvertrag geben. „In Helsinki wurde doch ein Kompromiss gefunden“. Offiziell bestehe Frieden, meint er. Doch es herrsche Krieg. Um uns herum, überall in den Bergen. „Aceh wird seine Souveränität zurückerlangen.“ Ein entschlossenes Gesicht sah mir entgegen.
Und so endete meine Reise irgendwann. Herzliche Menschen und große Gastfreundlichkeit. Leckeres Essen. Traumhafte Natur. Und wie so häufig mehr Fragen im Gepäck als zuvor. Als Touristin kann ich vieles nur erahnen. Doch ich habe zwei Welten erlebt. In einer lebt die Zivilbevölkerung und in der anderen ein restriktives Regime. Die gegenseitige Wahrnehmung ist allgegenwärtig. Sie müssen einander tolerieren, um ihre eigene Welt zu gestalten. Ich würde sogar noch weitergehen: Akzeptanz dieser Koexistenz scheint existenziell. Ansonsten würde womöglich eine von ihnen untergehen. Was wäre das für eine Welt, die dann bleibe? Diese Frage scheint bedrohlich, zu wirken.
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