87 Kinder und Erwachsene. Alle leben sie zusammen in Juma Lingga. Dort stehen 10 Wohnhäuser auf dem Gelände. 5 blaue für die Jungen. 5 rosa für die Mädchen. Anfangs brauchte ich einige Zeit zur Orientierung. Wie sind die Häuser strukturiert? Welche Aufgaben haben die Kinder? Welche das Personal? Es dauerte einige Wochen und ich kannte mich aus. Um 16 Uhr lassen alle ihre Arbeit ruhen, um in der Küche einen Snack zu essen. Böden und Küchen werden morgens geputzt. An jedem Wochentag hat die Schuluniform eine andere Farbe. Schichtwechsel erfolgt um 12 Uhr mittags.

Mit der Zeit lernte ich auch die Kinder immer besser kennen. „Alpha Omega“ fokussiert sich auf Menschen mit intellektuellen und emotionalen Beeinträchtigungen. Den Umgang mit einzelnen Kindern musste ich zunächst erlernen. Stück für Stück. Nach einem Monat wusste ich, wie ich mit einem epileptischen Anfall umgehe, wenn ein Kind neben mir einfach umfiel.  Ich lernte aus Erfahrung, dass ich meine Tasche genau im Blick behalten muss, wenn bestimmte Kinder in meiner Nähe sind. Mittlerweile weiß ich, mit wem ich Späße machen kann und wer darauf empfindlich reagiert. Und auch die Kinder lernten mich immer besser kennen. Anfangs noch eingeschüchtert von meiner Hautfarbe und Nase, wurde ich morgens bald mit Umarmungen begrüßt. In den ersten Monaten riefen sie mich noch „Kakakku“ [meine Schwester] oder „Kakak cantik“ [schöne Schwester]. Nun nennt mich zumindest ein Großteil von ihnen „Kakak Maria“.

Den Anfang erschwerte vor allem die Sprachbarriere. Kinder kamen auf mich zu und sprachen auf Bahasa Karo auf mich ein. Ich verstand kein Wort. Konnte noch nicht mal ausdrücken, warum ich nicht antwortete. Also entschied ich, mich zunächst auf die Grundlagen dieser Regionalsprache zu fokussierten. Meine Motivation: Beziehungsaufbau. Ich kann mich noch genau erinnern, wie stolz mir zwei Mädchen die Namen der Farben beibrachten. Und schon bald konnte ich mehr auf der Regionalsprache als auf Indonesisch ausdrücken. Da beschloss ich, den Fokus wieder zu verschieden. Mein Bahasa Karo reichte nun für Arbeitszwecke aus. Aber auch Interjektionen musste ich neu lernen. Bin ich überrascht, gebe ich heute ein „Iiiyh“ von mir. Tut mir eines der Kinder weh, ein „Aduh“. Und auch die nonverbale Kommunikation stellte mich anfangs vor neue Herausforderungen. Ein böser Blick konnte z.B. den Kindern keine Grenzen aufzeigen. Nein, ich lernte, dass ich sie ein Stück wegjagen musste, um das zu bewirken.

Heute muss ich über all das nicht mehr nachdenken. Wenn man so viele Stunden mit den Kindern arbeitet, wird das, was anfangs sehr herausfordernd erschien, schnell vertraut. Mittlerweile kenne ich einen Großteil der Kindernamen. Kenne ihre Talente. Ihre Triggerpunkte. Es sind zu viele, um zu jedem:jeder eine persönliche Beziehung aufzubauen. Doch nach sechs Monaten kann ich sagen, dass mich mit den meisten irgendetwas verbindet. Wenn ich Desta höre, denke ich an einen kleinen Jungen. In Pausen spielen wir zusammen Ball. Abends helfe ich ihm, den schweren Reiscontainer zum Wohnhaus zu tragen. Berta, eine ältere Frau. Sie umarmt mich, sobald sie mich sieht und will meine Arme und Beine massieren. Und dann ist da Mascet, der mir stets einen bösen Blick zuwirft. Verständlich. Täglich erwische ich ihn, wie er Essen aus der Küche klaut oder seine Zigaretten an den Gasherden anzündet. Apri, mit dem ich stundenlang Elfmeterschießen geübt habe und der überall stolz herumerzählt, dass ich mit den Männern Volleyball spiele. Neira, die in der Schule angekommen im Bus so lange sitzen bleibt, bis ich ihr meine Hand entgegenstrecke. Mit den Armen wackelnd kommt sie zu mir. Angel, mit der ein halbes Jahr Haarreifen bastelte. Am Anfang fiel es ihr schwer, die Perlen auf die Nadel zu fädeln, heute braucht sie mich nur noch für die Heißklebepistole. Und einige Sätze der Kinder werde ich wohl nie wieder vergessen. Dea z.B. rennt auf mich zu, wenn ich das Wohnheim betrete. Sie wirft ihren Kopf in alle Richtungen, schließt ihre Augen und schreit: „Besok sekolah kita?!“ [Gehen wir morgen zur Schule?]. „Ue, kita bersama naik bus kuning ya“ [Ja, wir gemeinsam mit dem gelben Bus.], antworte ich jedes Mal sanft. Auch Ergina kommt immer wieder zu mir und fragt laut: „Mengapa, Ka?“ [Warum, Schwester?]. Und so erkläre ich ihr täglich drei bis viermal meine Tätigkeiten. Ihre Antwort ist ausnahmslos: „Cantik Ka!“ [Hübsch bist du Schwester.]. Ach, die Kinder habe ich alle in mein Herz geschlossen.

Obwohl so vieles vertrauter Alltag wurde und meine Sprachkenntnisse immer weiter zunahmen, soll das nicht heißen, dass ich nach den ersten Monaten in der Lage war, jede Situation gelassen zu meistern. Ich denke an Rahel, ein Mädchen mit Borderline-Störung. An eine Situation, in der ich alleine mit ihr vor einer ganzen Klasse stand, nicht wusste, wohin ihre Wut sie führt. An Kinder, die mit Fäusten aufeinander zugehen. An Geriko, der mit offener Kopfwunde zuckend während eines Anfalls neben mir liegt. Vor allem aber muss ich an Gesang denken. “Gededingdingda-gededingdingda” und „Jingle Bells“.  Ich muss an einen Autisten namens Hagen denken. Eine passende Umgangsform mit ihm zu finden, hat mich an manchen Tagen verzweifeln lassen. Immer wenn er mich sah, kam Hagen auf mich zu und fasste mich an. Irgendwann fand er heraus, dass meine Reaktionen an bestimmten Körperstellen heftiger ausfielen. Das fand er lustig. Bei jeder Gelegenheit versuchte er es erneut. Gerade in den ersten Monaten empfand ich den ungewollten Körperkontakt als massive Grenzüberschreitung. Mir war bewusst, dass er diese nicht als solche reflektieren konnte. Ihm machte Spaß. Es war ein Spiel für ihn. Die Mitarbeitenden erklärten, er habe zuvor noch keine:n Weiße:n gesehen. Er würde mich mögen. Kam er zu mir, jagten meine Kolleg:innen ihn weg. Manchmal kniffen sie ihn. Es half nichts. Wenn ich nicht in der Nähe war, rannte er durch die Gegend und rief „Di mana ibu Jerman?“ [Wo ist die deutsche Frau?]. Die Aufmerksamkeit, die er so von mir und dem Personal bekam, freute ihn sichtlich.  Als ich seinen Namen herausfand, sprach ich ihn direkt auf Bahasa Karo an. Ich fing an, ihm bei Versammlungen spezifische Sitzplätze zuzuweisen. 5 Minuten blieb er sitzen, dann hörte ich erneut “Gededingdingda“ und sah Hagen auf mich zu tanzen. In anderen Kontexten, wenn die Kinder frei auf dem Gelände herumliefen, war es noch schwieriger. Ich probierte, ihm keine Aufmerksamkeit zu schenken. Ich versuchte, ihn in Spiele mit anderen Kindern zu integrieren. Wollte, dass er gezielt mit mir interagieren konnte. Ich probierte so vieles. Ich erreichte Hagen nicht. Doch mein erster Monat in Indonesien verging und das änderte einiges. Ich kannte die Mitarbeitenden und Kinder und hatte viele Alltagssituationen bereits mehrmals erlebt. Ich wusste, was mich erwartet, wie ich mich zu verhalten hatte. Das ließ Anspannung weichen und führte zu neuer Selbstsicherheit. Und auf einmal warf mich das ständige Anfassen Hagens nicht mehr so sehr aus der Bahn. Ich ließ ihn spüren, dass es mich nervte. Nicht er, sondern dass ich mich ständig damit beschäftigen musste, ihn auf Distanz zu halten. Er hörte nicht auf, doch er wurde vorsichtiger. Immer wieder rieten die Betreuer:innen und Lehrer:innen, ich solle ihn einfach kneifen, dann würde er weg bleiben. Das Personal selber machte das nur in Ausnahmesituationen. Doch das konnte ich für mich moralisch nicht vertreten. Also kämpfte ich 3 Monate damit, mich Hagen verständlich zu machen.  Jedoch fing er im Dezember wieder an, mich an sensiblen Körperstellen anzufassen. Häufig schlich er sich von hinten an. Griff mir zwischen die Beine. Ich fühlte mich immer stärker von ihm belästigt, war in seiner Nähe ständig angespannt. Und da reichte es mir. Eine Grenze wurde erreicht. Ich entschloss, dem Rat meiner Kolleg:innen zu folgen. Denn ich hatte gelernt, dass ich mich in Lob und Kritik an dem Verhalten des Personals orientieren musste, wenn ich wollte das die Kinder mich verstanden. Hier ging es darüber hinaus um Selbstverteidigung und die Wahrung meiner körperlichen Integrität. Ich kniff Hagen in der gesamten Zeit 4 Mal. Moralisch für mich noch immer höchst verwerflich. Doch es funktionierte. Seitdem reicht ein böser Blick und er entfernt sich lachend. Noch heute habe ich immer ein Auge auf ihn. Wenn die Mimik nicht ausreicht, tut es ein zusätzliches „Tidak boleh!“ [Nicht erlaubt.] fast ausnahmslos. Weiterhin sucht er mich, fragt, wo die „deutsche Frau“ oder „Schwester Maria“ sei. Morgens wartet er vor meinem Zimmer. Singt „Jingle Bells“ oder „Gededingdingda-gededingdingda“. Wenn ich von der Arbeit wieder Nachhause komme, öffnet er die Fenster meines Hauses von außen, steckt den Kopf rein und fragt, wo ich sei. Erwische ich ihn dabei, rennt er lachend weg. Tagsüber tanzt er um mein Haus und ruft „Mariaaa, Ka Maria“. Mit all dem kann ich leben, doch meine körperlichen Grenzen wieder gewahrt zu wissen, war so wichtig für mich.

Das Jahr lässt mich auf so vielen Ebenen wachsen. Immer wieder muss ich Grenzen neu definieren. Mich selber in einem neuen Umfeld finden. Die Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigung ist nicht neu für mich. Bis zur 10. Klasse besuchte ich eine Inklusionsschule und davon profitiere ich hier stark. Dennoch kann ich Schulzeit und Freiwilligendienst kaum vergleichen. 87 Kinder, mit denen ich nicht einige Stunden am Tag verbringe. 87 Kinder, mit denen ich zusammenlebe. Ich selber in einer neuen Rolle. Eine fremde Sprache und Kultur. Traumata. Enorme Marginalisierung. Ich habe mich selber immer als Lernende begriffen. Habe persönlich bereits so sehr von meiner Arbeit hier profitiert. Zwischenmenschlichkei. Kommunikation. Toleranz. Empathie. Lernprozesse, die nie abgeschlossen sind.

Ich werde diese Zeit nicht vergessen. Ich werde diese tollen Kinder nicht vergessen. Ihre Witze. Wutausbrüche. Ihr Lachen. Wie sie jeden Tag mit einem Lächeln aufstehen. Meistens glücklich. Meistens gut gelaunt. Ich werde nicht vergessen, wie schnell sie mich aufgenommen haben. Obwohl ich so anders aussehe, obwohl ich kein Wort Karo sprach, obwohl ich so fremd mit ihnen umging. Ich werde diese Offenherzigkeit nie vergessen. Diese endlose Nächstenliebe. Wir können alle so viel von ihnen lernen. Das hat mich diese Zeit einmal mehr gelehrt.

0 Comments

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert