„Du bist irgendwie nicht, wie andere Weiße.“ Den Satz bekam ich nicht nur einmal, zu hören. Ob das nun an Gestik und Mimik, Sprechweise oder dem Pullover bei 25° liegt, kann ich nicht sagen. Doch jedes Mal löst ein solcher Kommentar ein warmes Gefühl in mir aus. Ein Gefühl der Zugehörigkeit. Doch es folgt ein bitterer Nachgeschmack. Aufgrund des postkolonialen Ursprungs kann nicht von Othering gesprochen werden, allerdings erscheint es mir absurd, dass ein Integrationsgefühl aus der Abgrenzung zu vermeintlich typisch Weißen heraus resultiert. Sollte dieses Gefühl am Ende meines Freiwilligendienstes nicht einfach so allgegenwärtig sein? Die beruhigende Gewissheit, ein Teil zu sein? Manchmal spüre ich diese Sicherheit. Ich will mich auf Verbindendes konzentrieren, nicht Trennendes hervorheben und dennoch sind es an anderen Tagen die kleinsten Unterschiede im Verhalten, in der Sprache, die mich immer wieder daran erinnern: Du bist anders. Vielleicht ist es da ganz natürlich, dass erst die Bestätigung von außen nötig ist, um eigene Integrationsfortschritte anzuerkennen. Manchmal sind auch fremd erscheinenden deutsche Verhaltensweisen bei Familie und Freund:innen, die bestätigen. Vielleicht braucht es diese Abgrenzung als ein Aufzeigen neuentstandener Differenzen, um den eigenen Integrationsprozess reflektieren, zu können. Vielleicht ist das ganz normal.

Integration scheint mir ein höchst dynamischer Prozess zu sein. Auf der einen Seite sind da so viele Facetten indonesischer Kultur, die bereits Teil meiner eigenen Normalität wurden. Täglich esse ich drei Reisgerichte. Nach einem Händeschütteln führe ich die Hand zur Brust. Will ich mich der Zustimmung von Gesprächspartner:innen vergewissern, hänge ich an meine Ausführungen ein, „…, begitu kan?“ […, so richtig?]. Will ich Verständnis ausdrücken, nicke ich einmal heftig oder gebe ein, „Oh, ya2.“, von mir. All diese Kulturaspekte habe ich bereits internalisiert. Abweichendes Verhalten fällt mir auf und auch das sind Momente, die Integrationsfortschritte aufzeigen. Gleichzeitig entscheide ich mich bewusst gegen die Adoption anderer Kulturmerkmale. Wenn ich Ältere begrüße, führe ich keine Hand an meinen Kopf. Zwischen den drei Mahlzeiten brauche ich nicht noch zahlreiche Snacks. Und auch habe ich noch keine Abneigung gegen Spaziergänge entwickelt. Selektiv Kulturstandards anzunehmen und auch abzulehnen. Das scheint mir ein Kern von Integration, zu sein.

Manchmal frage ich mich dennoch, wo die Grenzen des Prozesses liegen. Mit bestimmten Kulturaspekten konnte und werde ich mich nicht identifizieren. Manche Situationen erfordern von mir jedoch eben diese Verhaltensweisen. Und so fühle ich mich manchmal, als würde ich eine Rolle spielen. Und manchmal denke ich, diese Rolle könne ich nur temporär besetzen. Wie wahrhaftig kann Integration bei solchen Gefühlen sein? Es gibt da ein Diagramm, das ich mir immer wieder ins Gedächtnis rufe. Eine Verbildlichung von Akkulturationsstrategien:

Abb. 1: Akkulturationsstrategien nach J.W. Berry (1980) (Quelle: https://www.ikud-seminare.de/glossar/akkulturation.html (letzter Zugriff am 05.08.2024))

Ich muss mich manchmal daran erinnern, dass Integration eben keine Assimilation bedeutet. Ausgewählten gesellschaftlichen Konventionen kann ich folgen, auch wenn die dahinterstehenden Werte nicht die eigenen sind. Absolutistische Haltungen erscheinen mir hier fehl am Platz. Denn letztlich ist es Separation, die mehr weh tut als das Folgen soziokultureller Erwartungen. Manchmal erfordert Integration Rollenspiel.

Ich will die theoretische Reflexion an einem Beispiel verdeutlichen. Sexismus. In den ersten Monaten in Nordsumatra befand ich mich in einer Beobachtungsposition. Ich passte mich an. Während die Männer oberkörperfrei herumliefen, bedeckte ich Knie und Schultern. Waren bei Andachten nicht genug Stühle vorhanden, saß ich mit den Frauen auf dem Boden. Schnell erkannte ich, dass Tradition als Totschlagargument galt. „Yeah, it’s a traditional thing“, war die Erklärung eines Freundes auf die Frage, warum nur Männer öffentlich rauchten. Mir half es, eigene Handlungen gedanklich klar als sexistisch zu benennen. Immer wieder. Das war anstrengend, aber notwendig. Auch wenn es mir nicht gefiel, tanzte ich im Weihnachtsmonat traditionell auf den Bühnen der Karo und wenn ihnen mein Tanz gefiel, steckten Männer Geldscheine zwischen meine Finger. Ich fand mich selber in einer anderen Welt wieder. Doch anfangs blieb mir keine Wahl, mein neues Leben erforderte Anpassung von mir.

Erst nach ein paar Monaten konnte ich einschätzen, welchen soziokulturellen Normen ich folgen, welche ich meiden und welche ich brechen kann. Ich schleppte meine Wasserkanister alleine Nachhause und baute Schränke für die Kinder auf. Ich half bei der Ernte und dem Verfrachten der Reissäcke. Wenn Männer bei einer Begrüßung ihren Blick nicht senkten, tat ich es ihnen gleich. Ich brachte Freunden Boxschläge bei und trainierte selber Silat. Nach einiger Zeit nannten mich meine Kolleg:innen „Powerfrau“. In Deutschland hätte ich eine Manifestation dieses Spitznamens verhindern wollen, doch auf Sumatra war es Symbol meines feministischen Sträubens. Als Höhepunkt dieses betrachte ich das Abkochen von Menstruationstassen in der Wohnheimküche. Die darauffolgenden Gespräche werde ich nie vergessen. Und so glaube ich, divergente Rollenausführungen können in allen Gesellschaften impulsgebend wirken. Separation ist es jedoch, die Impulse verhindert.

Integration erforderte für mich Balance. Balance zwischen Kulturen. Balance zwischen Werten. Doch ich musste aufpassen. Mit den Monaten, die verstrichen, wurden Rollen immer natürlicher. Instinktiv verhielt ich mich gegenüber verschiedenen Gesellschaftsgruppen wie von einer jungen Frau erwartet. Instinktiv bediente ich mich gegenüber Pastor:innen, älteren Frauen und Männern verschiedener Gestiken und Ausdrucksformen. Ich musste aufpassen, diese Umgangsformen nicht zu internalisieren. Rollen als Rollen zu benennen. Immer wieder. Immer wieder zu reflektieren. Bei Veranstaltungen sträubte sich im letzten Jahr noch so vieles in mir dagegen, mit den Frauen Teller abzuspülen. Lieber half ich beim Aufbau der Technik. Heute suche ich ganz natürlich die Küche, um mich nützlich zu machen. Ich werde meiner Rolle gerecht und vergesse so häufig die Reflexion. Ehrlicherweise bin ich geschockt, wie schnell Assimilation erfolgen kann. Wie schnell man vergisst und aus dem Blick verliert. Ich verfiel in patriarchale Muster, weil der Integrationswille überwog. Ich frage mich, wie mehrere Jahre in diesem Land mich geprägt hätten. Wäre das Aushalten von Widersprüchen irgendwann zu anstrengend geworden? Das Rollenspiel vergessen?

Trotzdem würde ich das Risiko immer wieder eingehen. Es hat mich so vieles gelehrt und vieles infrage gestellt. So vieles nachfühlen lassen. Um bei meinem Beispiel zu bleiben: Den Druck des Patriarchats habe ich noch nie so intensiv gespürt. Eine allgegenwärtige Last auf meinen Schultern. Meine Ausreise fungiert als Ausweg und ich frage mich ernsthaft, ob ich Rollenzuschreibungen bei einem dauerhaften Aufenthalt entkommen hätte können. Ich frage mich, ob ich die Kraft dazu gehabt hätte. Dass ich diese Fragen nicht sicher beantworten kann, prägt. Aber es ist nicht alles schwarz und weiß. Deutschland nicht gleichberechtigt. Indonesien nicht völlig patriarchal. Die Rollen lehrten. Ihre Wirkmächtigkeit auf mich war enorm. So veränderte sich beispielsweise mein Selbstbild als „unabhängige, starke Frau“. Ein Freund sagte einmal zu mir: „You belong simply cause you are.“ Unabhängigkeit ist in unserer Welt eine Illusion. Stärke überall zu finden. Ich erkannte eurozentristische Prägungen von Feminismuskonzepten. Es ist so viel einfach, sich selber individualistisch zu denken. Dann sind da Kommentare, über die ich immer wieder nachdenken muss, die mich einfach nicht loslassen. „Schau, wie Frauen und Männer hier zusammenarbeiten“. Mein neues Leben ließ mich fundamentale Glaubenssätze hinterfragen. Es erschütterte Grundannahmen. Das war verdammt beängstigend, denn sie sind es, die unsere Menschen- und Weltbilder formen. Ein Zulassen der Infragestellung hieß somit ein Aufgeben von Sicherheiten. So puzzelte ich im Laufe des Jahres mühsam ein neues Bild von mir als Individuum. Ein neues Bild von Gesellschaft und Umwelt. All diese Bilder werden bei meiner Rückkehr nach Deutschland erneut auf die Probe gestellt werden. Müssen erneut reflektiert werden. Das ist anstrengend, ja kräftezehrend. So ist der Kopf immer am Arbeiten. Eindrücke verarbeitend, Gedanken sortierend, Leitlinien malend, Grundsätze suchend. Doch für mich ist all das jegliche Energie wert. Ich hoffe, mich immer wieder darauf einzulassen. Nicht müde und bequem zu werden. Denn letztlich geht es darum, Entwicklungsnarrative hinter uns zu lassen. Und ich bin davon überzeugt, dass dieser Kampf in unseren eigenen Gedankenwelten beginnt.

Schauspieler:innen spielen Rollen. Rollen, deren Handlungen sie nicht unterstützen. Rollen, deren Werte sie nicht teilen. Um eine Geschichte zu erzählen. Zweckorientiert. Utilitaristisch. So zeigen sie Perspektiven auf, diskutieren Werte, stoßen Gedanken an, geben Impulse. Auch ich spielte Rollen. Als Zweck diente Integration. Die Konsequenz war Empathie. Ein echtes Nachfühlen. Ich verstand und lernte. Wenn nach einem Theaterstück das Licht erlischt und der Vorhang sich schließt, entsteht Raum. Raum zwischen Realität und Spiel. Raum für Reflexion. Hier können Kostüme abgelegt und betrachtet werden. Nicht alles war eine Rolle. Nicht alles gespielt. Das Gefühl des anderen Charakters wird nicht vergessen werden. Der Einblick in ein fremdes Leben. Da ist ein Satz, der einen nicht loslässt. Eine Haltung, die einen prägt. Und so entsteht in diesem Raum – sei es nun nach einer Aufführung, auf dem Nachhauseweg einer Andacht oder im Flugzeug nach Deutschland – etwas ganz Wunderbares. Es ist ein Raum für Entwicklung. Für Selbstexperimente. Ein Raum für das Erschaffen neuer Versionen seiner selbst, seiner Umwelt und Mitmenschen. Für Zweifel. Für Bewusstsein. Für Frust. Für Dankbarkeit. Es ist ein Raum des tiefgreifenden Lernens.

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