Und dann ging es wieder los. Alles in Koffer und Backpack verstaut. Einen schweren Abschied von Kindern und Freund:innen hinter mir. Im Bus nach Medan. Der Flieger würde mich in wenigen Stunden von Sumatra nach Java bringen. Gedanken schwirrten durch meinen Kopf. Ich hatte keine Ahnung, was mich dort erwarten würde. Wo werde ich wohnen? Was werde ich arbeiten? Inwiefern wird sich Kultur unterscheiden? Ein völliger Neuanfang. Aber ich war bereit. Bereit, mich überraschen zu lassen. Bereit, dazuzulernen. Ich hoffte auf Gutes.
Seit drei Monaten lebe ich nun in Salatiga. Salatiga ist eine kleinere Stadt mit knapp 200.000 Einwohner:innen. Mein städtisches Leben unterscheidet sich grundlegend von dem in Kabanjahe. Eine Stadt bietet so viele Möglichkeiten. Infrastruktur, Freizeitangebote, Lebensentwürfe. Schon alle paar Tage eine:n Weiße:n auf der Straße zu treffen, ist eine völlig neue Erfahrung. Auch Einblicke in das ländliche Leben Zentraljavas bekomme ich. Jeden Morgen fahre ich 1,5 Stunden, um in verschiedenen Bergdörfern Lehrkräfte beim Unterrichten von Vorschulklassen zu unterstützen.
Außerdem hatte ich durch persönliche Beziehungen das Privileg, Teile balinesischer Kultur authentisch kennenzulernen. So feierte ich buddhistische Feiertage in Familienkreisen. Eine Priesterin bot mir an, bei ihr in Lehre zu gehen. Ich lernte eine Menge über das komplexe Verhältnis von Locals und Tourist:innen auf der Urlaubsinsel. Und auch das Reisen und unser Zwischenseminar in Jakarta trugen zu dem Gefühl bei, ein immer differenzierteres Bild von dem Land zu erhalten, das sich mittlerweile wie ein zweites Zuhause anfühlt.
So zaubert ein „Sudah makan?“ [Bereits gegessen?] den Menschen, egal, wo ich mich befinde, ein Lächeln auf das Gesicht. Im ganzen Land singen Kinder: „Di sini senang, di sana senang. Di mana2 hatiku senang“ [„Hier glücklich, dort glücklich. Überall bin ich glücklich.“] „Tidak apa2“ [„Kein Problem.“] gilt als gängige Reaktion auf Schwierigkeiten. Alles so wichtige Aspekte indonesischer Mentalität. Alles bereits so vertraut.
Diesem Gefühl folgend, hatte ich vorgehabt, kulturelle Tendenzen mithilfe Hofstedes[1] Kulturdimensionen zu analysieren. Kollektivistische Züge scheinen im asiatischen Kulturraum auf der Hand zu legen. Bereits im vorigen Rundbrief setzte ich mich mit dem Grad der „Machtdistanz“ auseinander. Und auch die „Maskulinität“ Indonesiens wirkt wenig überraschend.
Doch während ich diese ersten Einordnungen im Kopf sortiere, hinterfrage ich den Sinn der Analyse. Zu jedem Aspekt könnte ich seitenlange Erörterungen schreiben. Es widerstrebt mir, nicht zu relativieren. Tendenzen bleiben Tendenzen. Die Ausprägung variiert. Standort, Bildungsgrad, Klasse. So vieles spielt eine Rolle. Und Ausnahmen finden wir überall. Zudem würde mir die Einordnung der verbleibenden Dimensionen nicht leichtfallen. Ich finde Argumente für beide Seiten und habe das Gefühl, mit einer solchen Analyse in erster Linie Stereotype zu reproduzieren. Je länger ich in Indonesien bin, je mehr ich lerne und verstehe, desto komplexer erscheint mir Kultur. Ich hinterfrage den Sinn Hofstedes Analysemodells weiter. Blicken wir auf die Landesgrenzen afrikanischer Staaten und auf aktuelle weltpolitische Auseinandersetzungen, sollte uns die Disparität von Staat und Nation sehr bewusst sein. Landesgrenzen sind keine Kulturgrenzen. Manchmal habe ich zudem das Gefühl, der Habitus eines hiesigen sozialen Milieus ist dem entsprechenden in Deutschland ähnlicher als so manch einem im selben Land.
Und so nehme ich wieder Abstand von meinem Analysevorhaben. Beim Erstkontakt mit einer Kultur kann Hofstedes Modell sicherlich für kulturelle Unterschiede sensibilisieren. Einer ersten Einordnung dienen. Doch es wird keiner Abbildung gerecht. Kultur kann man nicht fassen. Tradition, Geschichte, Mentalität, Sprache, Raum. All das kann keinen sechs Dimensionen entnommen werden. Das kann kein Modell leisten.
Demnach ist das Einzige, was ich wirklich zum kulturellen Verständnis beitragen kann, zu erzählen. Anekdoten, Eindrücke, Entwicklungen. Die Auswahl so treffend, dass sie erlebte Vielfältigkeit repräsentiert. Worte bewusst wählend. Subjektivität des Erlebten betonend. Entwicklungsorientiert. Ergebnisoffen.
Meine Erfahrungen der letzten Monate stehen ganz unter diesem Motto. Ein Einsatzstellenwechsel. Von Sumatra zog ich Anfang März nach Java. Noch immer im selben Land. Noch immer in Indonesien. Doch mein erster Gedanke war ein anderer. „Eine andere Welt“, dachte ich. Die Region strahlt für mich förmlich vor Modernität. Die ausgebaute Infrastruktur Zentraljavas noch immer keine Selbstverständlichkeit. Auch die Menschen wirken lockerer. Lockerer bezüglich Höflichkeitsfloskeln, abweichenden Gewohnheiten, neuen Lebensmodellen.
Ein erster Eindruck, der sich nicht allein auf die unterschiedlichen Inseln zurückführen lässt. In Nordsumatra spielte sich mein Leben in einer ländlichen Region ab. Hier lebe ich städtisch. So sind es vor allem meine eigenen Lebensrealitäten, die sich grundlegend voneinander unterscheiden.
Hinzu kommt, dass Kultur sich uns durch Differenz erschließt. Demnach fokussiert sich meine Wahrnehmung ganz natürlich auf Unterscheidungsmerkmale. Dabei darf ich nie vergessen, dass beide Regionen so viel verbindet. Die Beziehung von Menschen zum Regen. Auch hier gelten Nudeln ausschließlich als Snack. Das Zufußgehen, sorgt auf beiden Inseln für Unverständnis. Ich vermute stark, Tourist:innen würden bei einem Besuch infrastrukturelle-, doch kaum kulturelle Unterschiede wahrnehmen. Das sollte im Hinterkopf behalten werden, wenn ich im Folgenden mein neues Leben vergleichend zu charakterisieren versuche. Da ist mehr, was beide Regionen verbindet, als sie trennt.
Bei meiner Ankunft überraschte mich vor allem eines: Ich hatte wieder Kommunikationsprobleme. In der neuen Umgebung verstand ich das Bahasa Indonesia nur mit großer Mühe. Ich fühlte mich an meine Anfangszeit auf Sumatra erinnert. Den Javanes:innen schien es ähnlich zu gehen. Sie baten mich immer wieder, das Gesagte zu wiederholen. Lachten über meine Aussprache. „Du redest wie die Batak!“. Ich brauchte einige Wochen. Dann verstand ich den neuen Akzent. Ich adoptierte ihn. Tauschte meine laute, scharfe Sprechweise gegen eine sanftere Aussprache ein. Ich stellte mir vor, auf dem vorderen Teil meiner Zunge liege ein kleiner Ball. Das half. Die Menschen begannen, mich zu verstehen.
Mit der Zeit lernte ich alltägliche Floskeln kennen. Einen Großteil hatte ich in Kabanjahe noch nie gehört. Wenn ich jemanden ein paar Tage nicht gesehen habe, frage ich „Bagaimana?“ [„Wie?“]. Ob man sich so nach dem Erlebten oder dem Gegenüber selber erkundigt, ist mir noch immer nicht ganz klar. Begegne ich jemanden in einer Seitenstraße, wird ein Kopfnicken und „Mari“ [entspricht dem englischen „let`s“] oder „Monggo“ [„Mari“ auf Bahasa Java] ausgetauscht. Werde ich dagegen von Bekannten gegrüßt, ist meist ein „Jo.“ als Reaktion ausreichend. Das Analysieren und Anwenden von Redewendungen macht mir Spaß.
Beim ersten Mittagessen im Büro wurde ich mit weiteren Unterschieden konfrontiert. Ich füllte meinen Teller mit Reis, Gemüse und Tempe und nahm mir Sambal[2] dazu. Doch davon musste ich mehrfach nachnehmen. Das Essen war so süßlich. Dem offizielleren Kontext angemessen aß ich mit den Fingerkuppen. Ich hatte gelernt, dass die gesamte Hand nur im Privaten genutzt werden darf. Ich bemerkte, dass die Menschen mich dennoch beobachten. Meine Menge an Sambal. Meine Hand. „Sudah orang Karo, ya.“ [„Du bist schon eine Karo.“], sagten sie und lachten. Mir fiel noch etwas anderes auf: Während ich in Kabanjahe das Essen verschlugen hatte und meine vermeintliche Langsamkeit trotzdem kommentiert wurde, musste ich in Salatiga sehr bewusst essen, um gemeinsam mit meinen Kolleg:innen das Essen zu beenden.
Noch etwas anderes ist neu. Egal, wohin mein Weg mich führt, ich werde von neugierigen Blicken begleitet. Seit vielen Monaten ist das meine Normalität. Auch hier in Salatiga. Ein paar Fragen und Kommentare auf der Straße erscheinen kaum erwähnenswert. Doch seit meinem Umzug hat sich die Quantität dieser stark reduziert. Sicherlich ein Resultat des städtischen Kontextes und anderer Weißer in der Umgebung. Das nehme ich als entlastend wahr. Einer der Gründe für meine zurückgewonnene Leichtigkeit im öffentlichen Raum.
Das Erzählen und Reflektieren. Das hat den größten Mehrwert. Das ist mittlerweile meine Überzeugung. Ab und zu verfestigt sich ein Eindruck. Geht mir über Monate nicht aus dem Kopf. Dann greife ich zu analytischen Elementen. Wage die Äußerung einer Hypothese. Immer die Kürze meines Aufenthalts im Hinterkopf. Immer meine eurozentrische Sozialisation. Und so unterscheidet sich mein dritter Rundbrief im Kern kaum vom ersten. Je mehr Facetten indonesischer Kultur ich kennenlerne, desto bewusster wird mir, wie viele weitere es noch zu erkunden gibt. Ja, ich fühle mich hier Zuhause. Ich weiß, wie ich Höflichkeit im Alltäglichen ausdrücke. Ich kenne indonesische Musik und Küche. Und mich stark zu verspäten, ohne einen Funken Stress zu empfinden, muss ich mir in Deutschland schnell wieder abgewöhnen. Aber ein Jahr wird nicht ausreichen. Zwölf Monate sind ungenügend, um eine Kultur in all ihrer Vollständigkeit zu erfahren. Und das erst recht in einem so großen und vielfältigen Land wie Indonesien.
Sich selber als Lernende:r begreifen. Grundannahmen als fehlbar betrachten. Aktiv zuzuhören. Widersprüche auszuhalten. Das ist das Wichtigste, was wir als Freiwillige beitragen können. Aus dieser Haltung heraus zu berichten. In Indonesien und in Deutschland. Das betrachte ich als meine Aufgabe hier.
[1] https://www.ikud-seminare.de/glossar/kulturdimensionen-geert-hofstede.html (letzter Zugriff am: 09.05.2024)
[2] Indonesische Chillisauce aus Zwiebeln, Knoblauch, Chilli und Salz
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