„Habituation [(…) lat. habitare wohnen, heimisch sein] ist eine einfache (meist unbewusste) Lernform: Wird ein Organismus wiederholt einem unbedeutenden Reiz ausgesetzt, kann dies mit steigender Anzahl an Wiederholungen graduell zu einer zentralnervös bedingten Abschwächung der (motorischen (Motorik) oder sensorischen (Wahrnehmung)) Reaktionsbereitschaft des Organismus führen bzw. sogar zum Ausbleiben der Reaktion […]“¹
Einfach gesagt: Eine neue Gewohnheit wurde etabliert. Habituation nennt man den dem zugrundeliegenden Lernprozess.
Das „European Journal of Social Psychology“ kam in einer Studie 2009 zu dem Schluss, dass dieser Prozess 18 – 254 Tage andauern könne. Eine weite Spanne.
Einen Monat lebe ich nun auf Sumatra und mein Leben hat sich grundlegend gewandelt. Vieles ist bereits Normalität geworden. Die Habituation in einigen Bereichen schon abgeschlossen.
So trinke ich kaltes Wasser nur noch, wenn ich das heiße vergaß. Abends wird das Moskitonetz unter die Matratze geklemmt. Morgens Füße und Arme mit Mückenspray besprüht. Nach Anschnallgurten in Verkehrsmitteln suche ich erst gar nicht. Und ein entgegenkommendes, hupendes Auto bringt mich nicht mehr aus der Ruhe.
Auch die Anpassung alltäglicher Floskeln vollzog sich schnell. Ein „Apa kabar?“ [Wie geht es dir?] habe ich hier noch nie gehört. Stattdessen werde ich zu allen Tageszeiten mit, „Sudah makan?“ [Schon gegessen?], begrüßt. Darauf wird ein kurzes „Sudah“ [Bereits] oder „Belum“ [Noch nicht] erwidert. In der Karo-Region, die sich von den Grenzen Acehs bis zum Toba See erstreckt, ist es zudem üblich, nach einem Händedruck die rechte Hand zur Brust zu führen. Dies ersetzt ein „Senang kita bertemu.“ [Schön, dass wir uns kennenlernen.] und ist Ausdruck von gegenseitigem Respekt. Kombiniere ich diese Geste noch mit einem „Mejuah-juah“, löst das immer Freunde aus.
Mehr Zeit brauchte ich allerdings, sinnvolle Gewohnheiten in anderen Lebensbereichen zu entwickeln. Allen voran im Zusammenhang mit den Bädern. Hocktoiletten und Wasser anstelle des Toilettenpapiers bereiteten mir keine Probleme. Doch die Bäder sind immer nass. Geduscht wird, ob mit Duschkopf oder Schöpfkelle einfach mitten im Bad. Bei Toilettengängen landet immer Wasser auf dem Boden. Und auch Hände, Gesicht oder Wäsche werden mittig im Raum gewaschen.
Zusätzlich hat sich das Tragen geschlossener Schuhe als wenig praktisch erwiesen. Egal, ob ein Haus oder ein Teppich betreten wird, ständig müssen Schuhe an und ausgezogen werden. Die Füße werden immer schmutzig. Das Barfußlaufen in geschlossenen Räumen, die Arbeit auf dem Feld, im Garten oder ein Kind, das den Fuß mit dem Boden verwechselt, sind einige Gründe. Dies kombiniert mit der Nässe im Bad, machten ständiges Wischen meines Zimmers erforderlich. Doch mittlerweile habe ich ein System aus Fußabtretern und häufigen Waschen etabliert, das eine gewisse Sauberkeit garantiert.
In anderen Bereichen ist die Habituation noch in vollem Gange. Angefangen bei meinem Namen…oder besser gesagt meinen Namen. Davon habe ich hier einige. Menschen, die Englisch sprechen, nennen mich Mary. Mit indonesischem Akzent klingt das wie Deutsche „Märi“ lesen würden. Mariata, Mariana und Marié höre ich dagegen nur noch selten. Vor allem hat sich Maria – mit einem gerolltem R – etabliert. Daran habe ich mich schnell gewöhnt. Noch lernen muss ich allerdings, nicht auf meinen deutschen Namen zu hören. Mari bedeutet im Indonesischen so viel wie „let`s“ und wird in einem Arbeitskontext mit Kindern entsprechend häufig verwendet. „Mari duduk!“ = „Setzt euch!“. „Mari masuk!“ = „Kommt rein!“. Noch immer blicke ich mich bei jeder Verwendung suchend um.
Mittlerweile habe ich auch verstanden, warum Frauen an meinem ersten Tag sagten, ich könne sie „ibu“ [Mutter] nennen. Nur Jüngere und Menschen desselben Alters werden beim Namen genannt. Für Ältere gelten zumindest in meinem Umfeld strenge Regeln zur Ansprache. Etwas ältere Menschen werden mit „Kakak“ [Schwester] und „Abang“ [Bruder] angesprochen. Deutlich Ältere mit „ibu“ [Mutter] und „Bapak“ [Vater]. Wenn ich mir bei dem Alter einer Person unsicher bin, ist das Nachfragen kein Problem. Sind mehrere bspw. „Abang-abang“ [Brüder] anwesend, nenne ich nach der Ansprache noch den Namen des gemeinten Mannes. Alles andere gilt als sehr respektlos.
Meine Mentorin, Ibu Hera erzählte mir von einer Stunde im Englischunterricht . Es waren die Pastor*innen der Kirche anwesend und sie habe erklärt, dass die obigen Formen der Anrede im Englischen nicht verwendet werden. Zur Verdeutlichung habe sie ihren älteren Vorgesetzten ausschließlich beim Namen genannt. Das sei ihm so unangenehm gewesen, dass sein gesamtes Gesicht rot angelaufen sei. Dies gebe ich hier wieder, um zu verdeutlichen, wie konsequent dieser Umgangston in meinem Umfeld gepflegt wird.
Dennoch hat es bei mir zwei Wochen gedauert, bis mir Namen nicht mehr ohne Anrede herausrutschten. Oft vermied ich eine direkte Ansprache. Und ich bin mir nicht sicher, ob die Menschen anfänglich zu höflich waren, um meine Ausrutscher zu kommentieren oder wussten, dass die Handhabung in Europa eine andere ist. Ich hörte nur zwei, drei weitere Male: „Du kannst mich … nennen“.
Ausrutscher passieren mir nun nicht mehr, aber es wird sicher noch etwas dauern, bis sich diese Umgangsform für mich natürlich anfühlt.
Und dann ist da noch das Essen. Das war in vielerlei Hinsicht neu für mich. Ich liebe Schärfe und das war eine gute Voraussetzung, dachte ich. Dann aß ich in der Küche in Juma Lingga. Nicht nur mein Mund brannte, sondern ich fühlte mich, als würden alle Organe in Flammen stehen. Hier schwimmen Chilischoten im Essen, die schärfer sind als alles, was ich in Deutschland je gegessen habe. Aber ich war selber erstaunt: Nach einigen Tagen hatte ich mich daran gewöhnt.
Woran ich mich bisher nicht gewöhnen konnte und auch nicht sicher bin, ob 254 Tage dafür genügen, ist der Zuckeranteil in Getränken und Snacks. Einem Tee, Kaffee oder auch jeder Limonade werden mindestens zwei EL Zucker beigefügt. So lernte ich schnell, was „ohne Zucker“ [tanpa gula] auf Bahasa Indonesia heißt. Auch war mir vorher nicht bewusst, wie viel Essen „goreng“ [frittiert] gegessen wird. Es gibt „ayam goreng“, „pisang goreng“, „ubi goreng“, „nasi goreng“, „ikan goreng“ und so weiter. Worüber ich immer noch stolpere, ist das Gebäck, das mit „roti“ [Brot] beworben wird. Das, was dem deutschen Brot am nächsten kommt, ist Weizentoast. Ansonsten aß ich schon Kekse, Milchbrötchen und Kuchen, die mir mit der Bezeichnung „roti“ überreicht wurden.
In der Region um Kabanjahe wird mit der rechten Hand gegessen. Hier war meine Habituation schnell abgeschlossen. Ich habe das Gefühl, so viel bewusster zu essen. Besonders mag ich das gemeinsame Essen. Anders als in gehobenen Kontexten essen wir in Juma Lingga auf einem Teppich. Alle sitzen im Schneidersitz. Jede*r hat eine große Portion Reis auf dem Teller und mittig stehen Schälchen mit Beilagen. Man nimmt sich, worauf man Lust hat. Manchmal teilen wir uns die Reisteller auch. Das ist für mich schnell willkommener Alltag geworden.
Noch nicht gewöhnt, habe ich mich allerdings an das Rülpsen danach. Dass das in Deutschland als unhöflich gilt, wusste Ibu Hera aufgrund ihrer internationalen Arbeitsbeziehungen. Sie macht darüber gerne Späße mit ihren Kindern. Zumindest in Nordsumatra bestehen hier aber keine Hemmungen. Obwohl ich über die Willkür eigener Sitten immer wieder schmunzeln muss, hat sich meine erhöhte, „sensorischen Reaktionsbereitschaft“ in dem Zusammenhang noch nicht verringert.
Und doch merke ich von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, wie alles vertrauter wird. Ich weiß, wie viel Körperkontakt im Gespräch angemessen ist. Schätze an der Kleidung ab, wie ich mein Gegenüber einordnen kann. Und das entspannt. Kostet weniger Energie. Wenn bestimmte Aspekte zur Normalität werden, kann sich die Wahrnehmung auf andere, neue konzentrieren. Eine Sprache. Kulturelle Konflikte. Und so spüre ich hier sehr bewusst, wie Habituation voranschreitet. Ich mit jedem Tag ein bisschen mehr ankomme. Mir die neue Kultur langsam für mich erschließe.
¹:https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/habituationhttps://dorsch.hogrefe.com/stichwort/habituation (letzter Zugriff am: 09.10.2023)
One Responses
Großartige Schilderungen und Überlegungen. Vielen Dank für das Teilen!
Lass es dir weiterhin gut gehen, Alex.